Religion geht auch ohne Spiritualität
Spiritualität scheint heute fast ein Zauberwort zu sein, unter dem sich Religion gut vermarkten lässt: Was sind schon intellektuelle Predigten, die nüchtern von Kanzeln gesprochen werden, im Vergleich zu schönen Ritualen, die Körper und Sinne einbeziehen? Was sind theologische Argumentationen im Vergleich zu Übungen, die die Gegenwart von etwas „Höherem“ auf eine Weise spüren lassen, die für den Intellekt nicht zu fassen ist?
Längst haben auch evangelische Gemeinden viel „Spirituelles“ im Angebot, und die große Resonanz, auf die das beim Publikum stößt, scheint dem Trend Recht zu geben. Allen, die auf diese Weise religiöse Einsichten haben und Erfahrungen von Gottesnähe machen, sei das herzlich gegönnt. Aber was spricht eigentlich dagegen, vorwiegend mit Hilfe des „Kopfes“ – also mit Vernunft und Verstand – an Religion heranzugehen? Gar nichts! Niemand muss sich für religiös unbegabt halten, nur weil ihr oder ihm die Lust auf spirituelle Übungen abgeht.
Zumal der Trend, intellektuelle Frömmigkeit und Glauben durch Spiritualität zu ersetzen, auch die Gefahr einer gewissen Denkfaulheit birgt: Wer die eigene Gottesgewissheit durch spirituelle Einsichten und nicht durch Nachdenken und Diskutieren gewonnen hat, braucht darüber nicht zu argumentieren. Die anderen können das ja ohnehin nicht nachvollziehen. Doch so entfernt sich Religion immer mehr aus dem gesellschaftlichen Diskurs. Sie wird etwas Mysteriöses, über das zu streiten sich gar nicht lohnt.
Dass es auf der Welt Dinge gibt, die mit den Mitteln der menschlichen Vernunft nicht hinreichend beurteilt werden können, Phänomene, die wir Menschen nicht im Griff haben, denen wir aber dennoch unterworfen sind – das ist keine spirituelle Erkenntnis, sondern eine intellektuelle. Fromme Menschen nennen diese Leerstelle des Unverfügbaren „Gott“, sie rechnen mit ihr und schöpfen dabei aus einer reichen religiösen Tradition, die wertvolles Wissen dazu bereithält. Sie diskutieren mit anderen und denken darüber nach, was daraus für ein gutes Leben für alle auf dieser Welt folgt. Und sie setzen sich für eine Gesellschaft ein, in der nicht Machbarkeitswahn und Wissenschaftsgläubigkeit an Gottes Stelle treten.
Und damit sind sie fromme und gläubige Menschen – auch wenn sie in ihrem ganzen Leben noch kein einziges spirituelles Erlebnis hatten und darauf auch keinen gesteigerten Wert legen.
Antje Schrupp
viaReligion geht auch ohne Spiritualität – Evangelisches Frankfurt.
Präzise auf den Punkt gebracht. In dieser Schärfe habe ich da noch nicht drüber nachgedacht, aber ich teile die Gedanken.
Die Gefahr von Denkfaulheit sehe ich auch und der Verlust der Fähigkeit im gesellschaftlichen Diskurs Glauben und/oder Religion argumentativ ist für alle Seiten ein großer Schaden.
Der Standpunkt eröffnet nicht nur die Chance des Diskurs mit Menschen, denen Spiritualität fremd oder verdächtig ist – zugleich markiert er auch die Grenze gegenüber allen spirituellen Positionen, die sich letztlich, also am „Ende“, darauf zurückziehen: „Das muss du (oder noch platter: man) halt einfach glauben!“
Schon vor über dreißig Jahren habe ich im Hörsaal bei Wilfried Härle gelernt, dass es SO nicht geht. Das Denken gilt es auch gegenüber allen eigenen spirituellen Erfahrungen anzuwenden. Ich bin ja ein großer Freund der These, dass Glauben mit dem Staunen beginnt. Aber nicht endet, sondern eingebunden werden muss in die kritische Reflexion dieser Erfahrung mir selbst gegenüber und im Blick auf alle, die sie anzweifeln, in Frage stellen. Sonst ist Glaube nicht sprachfähig.