Schlichtweg weniger konsumieren. Gedanken zu „Fairarscht“ von Sina Trinkwalder

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Ich gestehe, der Titel hat mich erst mal abgeschreckt.
Erstens fand ich ihn (zu) reißerisch.
Zweitens dachte ich, was soll fair mit „Verarsche“ zu tun haben?!

Klar, Sina Trinkwalder, die sagte mir was.
Und ich folge ihr schon länger auf Twitter.
Dann las ich die Rezension meines Kollegen Heiko Kuschel und dachte:
Okay, vielleicht solltest du das Buch doch lesen.

Gesagt, gekauft, gelesen.
Fast in einem Zug (in einem Zug).

Vieles kannte ich schon:
Händler, die Produzenten mit Preisen unter Druck setzen.
Discounter, die nur auf Gewinnmaximierung aus sind.
Immer niedrigere Einkünfte für landwirtschaftliche Betriebe, von Kaffeebauern ganz zu schweigen.
Siegel und ihre Probleme.
Die Wegwerf-Mentalität.
Die damit verbundene mangelnde Wertschätzung von Produkten.
Und der menschlichen Arbeit, die dahinter steht.
Das Sich-gegenseitig-die-Schuld-zu-schieben.
Die mangelnde Transparenz, nicht nur der Lieferketten.
Das Gefühl der Überforderung bei mir als Konsumenten.
Obwohl es doch angeblich immer nur um unsere Wünsche als Konsument/-innen geht.
Und so weiter und so fort.

Das Buch ist ein guter und leichter Einstieg.
Für Menschen, die sich bislang nicht oder wenig mit solchen Fragen beschäftigt haben.

Aber auch für mich als Insider war es lesenswert.
Sehr lesenswert.
Aus Gründen.
Vier Gründen.

1. Zum Beispiel die Beispiele.

Beispiele sind immer gut.
Sie sind anschaulich und prägen sich ein.

Schön fand ich die Geschichte von Mon Cherie und der Piemont-Kirsche.
Die Kirschen waren nämlich gar nicht frisch im Herbst, nach der langen Sommerpause.
Sondern kamen aus dem letzten Jahr, aus Polen oder Chile.
Tiefgekühlt.
Der Rest war geniales Marketing.

Oder die Geschichte vom Analogkäse, in dem gar kein Käse war.
Dafür auf unseren TK-Pizzen landete.
Aufdeckung, Aufschrei, vom Markt verschwunden.
Dann vegan umdefiniert und mit Gewinn weiterverkauft.
Geschickt gemacht, keine Frage.

Oder die Tatsache:
Vieles, was ich beim Discounter kaufen kann, ist nach Bio-Normen hergestellt.
Denn es stammt aus den Überschüssen der Bio-Produktion.
Wenn  die der Bio-Handel nicht mehr nimmt, nehmen kann, nimmt es gerne der Discounter.
Zum Vorzugspreis, versteht sich.

Fairarsche nennt Trinkwalder solche und ähnliche Vorgehensweisen.
Manches lässt mich schmunzeln, anderes überrascht und ärgert mich.

2. Bio und fair, fair oder bio oder was?

Überzeugend finde ich die These:
Wenn fair und bio geht, dann fair und bio, klar.
Wenn aber nur fair oder bio möglich ist, dann bio.
Denn:

Fairness ist jederzeit änderbar und einführbar. Der Raubbau an der Natur, das Zerstören unserer fruchtbaren Böden durch Pestizide und Monokulturen, hingegen ist irreparabel. Flora und Fauna, die verloren ging, kann man nicht einfach so wiederherstellen. Bio ist demnach wichtiger. (102)

Leuchtet mir ein.

3. Die zwiespältige Rolle von NGOs und Fairtrage

Mich hat sehr nachdenklich gemacht, was Sina Trinkwalder über NGOs und Fairtrade schreibt.
Als Christ, Theologe, Pfarrer und Referent im Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt.
Klar, Brot für die Welt, Greenpeace, Campact oder wer auch immer –
sie verfolgen immer auch eigene Interessen.
Es geht um Ansehen, und, ja, auch um Arbeitsplätze.
Erschreckt hat mich aber, dass sich viele dieser Institutionen offenbar die Hände selbst mit schmutzig machen.
Trinkwalder wirft ihnen vor:
An manchen (oder vielen?) Stellen seid ihr bereits Teil des Systems.
Ihr tut das, um weiter Projektgelder zu erhalten und euren Einfluss in der Öffentlichkeit nicht zu verlieren.
Doch so verliert ihr die kritische Distanz.

Da wird die Autorin manchmal spitz, ja böse.
Sie hat ihre Erfahrungen gemacht.

Dennoch:
Ich vermute, dass die Wahrheit irgendwo dazwischen liegt.

Und:
Zukünftig werde ich hier genauer hinsehen und nachfragen.
Bei meinen Kontakten zu und Projekten mit NGOs in diesem Feld.
Das ist für mich der wesentliche Erkenntnisgewinn dieses Buches.

4. Die ehrliche und authentische Schreibweise

Sina Trinkwalder schreibt authentisch.
Sie hat ein Textilunternehmen aufgebaut hat, das ausschließlich und alles in Deutschland produziert.
Daher nimmt man ihr ab, was sie schreibt.
Wenn man so will, sie hat das Recht so zu schreiben.
Sie „darf“ das.

Aber sie ist auch ehrlich.
Gibt Einblicke in ihr Seelenleben.
Und ich entdecke mich wieder.

Wenn sie meint, auf dem richtigen Weg gewesen zu sein –
nur um dann festzustellen, dass sie doch wieder nur verarscht worden ist.
Wenn sie erzählt, dass die Verzweiflung wieder einmal in ihr mächtig ist.
Wenn sie aufzeigt, wo und an welchen Stellen auch sie keine Alternativen sieht.
Manchmal mit Augenzwinkern und Humor.
Also, ein Trikot vom FCA, das muss im Stadion schon sein.
Gibt es aber nicht in bio und/oder fair.

Ich schlage mich ja auch ständig mit der Frage herum:
Wie kann das gehen mit bio und/oder fair?
Daher finde ich das Buch nicht nur ehrlich und authentisch –
sondern auch entlastend einerseits und mutmachend andererseits.
Denn einfache Lösungen gibt es nicht.
Kröten müssen wir weiter schlucken, viele.
Es bleibt schwierig für uns Kunden, wie Sina Trinkwalder an einer Stelle schreibt, aber auch:

Wenn man wirklich will, findet man Wege, sonst kracht uns die Kiste um die Ohren! (175)

Ja, wahrscheinlich gilt es nicht zu entscheiden zwischen schwarz und weiß,
richtig und falsch,
gut und böse.
Von Schattierungen spricht die Autorin.

Ich würde das so sagen:
Die Wahrheit, der Weg und das Leben liegen eher im grauen Bereich.
Im mausgrauen Alltag.
Langweilig.
Zäh.
Widersprüchlich.
Anstrengend.
Überhaupt nicht medienwirksam.
Aber genau da liegen Wahrheit, Weg und Leben.

Am Ende läuft es auf einen simplen Satz hinaus:

Schlichtweg weniger konsumieren. (178)

So einfach.
So schwierig.
So sinnig.
So befreiend.

2 Gedanken zu “Schlichtweg weniger konsumieren. Gedanken zu „Fairarscht“ von Sina Trinkwalder

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