Zitat aus: Und doch. Worte zum Bild
Endlose Weiten (scheinbar) und ein einzelnes Menschenkind. Kind am Meer. Es liegt auf dem Bauch. Es sieht den Wellen zu. Dem Gleichförmigen, wundersam Übermächtigen, dem, was allem Alltäglichen enthoben ist. Ich kenne seinen Namen. Denn es gehört zu mir. Und ich habe lange überlegt, ob dieses Bild auf den Titel einer Zeitung darf. Wenn Ihr nicht werdet wie die Kinder… So steht’s drunter. Wie es geschrieben ist im Buch der Bücher.
Endlose Weiten (anscheinend) und ein einzelnes Menschenkind. Kind am Meer. Es liegt auf dem Bauch. Es ist den Wellen erlegen. Die Augen gebrochen – das weiß ich, auch wenn ich es nicht sehe. Vordergründig einer übermächtigen Naturmacht erlegen, und doch weiß jedermensch dieser Tage: Das Bild ist durch und durch und ausschließlich ein politisches Bild. Wie Kim Phuc in Vietnam. Willy Brandt in Warschau. Banksys Streetart. Den Namen des dreijährigen Jungen aus Syrien habe ich in der Zeitung gelesen. Aylan Kurdi. Damit wird er zu einem Teil meiner Geschichte. Denn auch aufgrund seines Bildes kann ich nicht sagen: “Ich habe von nichts gewusst.”
So beginnt der kluge Text von Friederike Erichsen-Wendt. Ich wollte ihn rebloggen, klappt aber heut früh irgendwie nicht richtig. Als ich den Text las, fiel mir sofort dieses Zitat von Franz-Josef Radermacher ein, das mich seit Jahren begleitet:
Es ist zu beachten, dass es den Marktfundamentalisten gelungen ist, ihre Position über manipulierte Bilder tief in den Gehirnen vieler Menschen zu verankern.
Der Neoliberalismus gibt eine ungeheure Menge an Geld aus, um seine Vorstellungen von Sinn und Zweck des Daseins von Frauen, Männern und Kindern in unserem Fühlen, Denken und Handeln zu hinterlegen. Seither denke ich darüber nach, wie Gegen-Bilder entwickelt und verbreitet werden können. Das aktuelle Foto vom toten Kind am Strand macht mir wieder einmal klar: Gegen-Bilder lassen sich nicht gezielt entwickelt, sie entstehen spontan und treffen umso tiefer in unsere Herzen.
Friederike hat das Für und Wider gut beschrieben, den Blogbeitrag von Mädchenmannschaft hatte ich auch gestern gelesen, und ich konnte die Meinung verstehen, aber spürte zugleich Widerstand. Das „Problem“ ist einfach: das Bild ist da. Ich habe es gesehen, wie Abertausende andere auch. Und mir hat sich der Magen umgedreht, wie vielen anderen auch. Aber ich merke, ich werde es nicht los. Es hat eine Tiefenschicht erreicht und angerührt und sich darin verankert. Ja, verankert. Wofür die Werbebranche Millionen braucht, gelingt hier sozusagen beiläufig, spontan.
Wir können das jetzt diskutieren und das ist gut so. Vor allem, wenn es so behutsam und abwägend wie bei Friederike geschieht. Doch selbst wenn ich am Ende zu dem Ergebnis komme, dass die Veröffentlichung ein Verstoß gegen die Menschenwürde darstellt – ich werde das Bild nicht mehr los. Ich muss damit leben. Kann es versuchen wegzuschieben oder ihm ins Auge schauen.
In drei Monaten feiern wir Weihnachten und dann steht auch ein Kind im Mittelpunkt. Gut möglich, dass Pfarrer/-innen an Heilig Abend 2015 wagen, die versammelte Gemeinde an Aylan Kurdi zu erinnern. Vielleicht fällt uns – obwohl der Gedanke an sich grausam klingt – in diesem Jahr der Blick von Weihnachten Richtung Karfreitag „leichter“, mit all den Bildern im Kopf. „Ecce homo“ (Johannes 19,5) sagt Pilatus zu Jesus, vor seiner Kreuzigung. Ecce homo, immer wieder.