Zion Isaiah Blick. Berührendes oder voyeuristisches Video?

Knut Dahl hat mich auf dieses Video aufmerksam gemacht, als er meinen Blogbeitrag vom Freitag gelesen hatte, in dem es unter anderem um die Frage ging, inwieweit Sterbeprozesse in die Öffentlichkeit „gehören“:

Ich muss gestehen, ich bin gespalten und unsicher. Auf der einen Seite gibt das Video einen Einblick in eine (Leidens-) Geschichte, die auch mir als Pfarrer  in dieser Intensität sonst kaum begegnet. Ich frage mich aber, muss dies öffentlich ausgebreitet werden?

Knut stellt die berechtigte Frage, ob es sich hier auch um einen Generationenunterschied handeln könnte. Jüngere Menschen wachsen mit (persönlichen) Bildern und Videos im Netz in einer Selbstverständlichkeit auf, die mir fremd ist. Das wäre die eine These, warum ich mich damit schwer tue.

Die andere These wird verstärkt, wenn ich mich im deutschsprachigen Netz umschaue und zu dem Video solche Aussagen finde: „Wunderbaby Zion wurde nur 10 Tage alt“ oder „Rührende Netzgeschichte. Wunderbaby? Rührende Netzgeschichte?

Mein Unbehagen kann ich an dieser Beschreibung gut verdeutlichen:

„Der kleine Zion Blick lebte nur 10 Tage, aber er veränderte das Leben vieler. ( … ) Seine Eltern Joshua und Robbyn Blick (… ) beschlossen die beiden, jeden einzelnen Moment, den sie mit ihrem kleinen Sohn verbringen konnten zu feiern, jede Sekunde achtsam zu genießen. Und sie dokumentieren das kurze Leben von Baby Zion in einer Serie hochemotionaler und bewegender Bilder.“

Das Video macht gut deutlich, dass die Eltern die zehn Tage achtsam „genossen“ haben, auch aus ihrem Glauben hinaus. Und die Bilder und Videoschnipsel sind „hochemotional“ und berührend. Doch gehört dies in die Öffentlichkeit? Nährt es nicht den Voyeurismus, die Sensationsgeilheit? Oder berührt hier „wirklich“ etwas? Wird „wirklich“ (entscheidend, dauerhaft, nachhaltig) das Leben der Betrachterin, des Betrachters verändert? Gar zum Glauben an den Schöpfer eingeladen? Oder macht es zumindest nachdenklich, dass die Schöpfung Gottes auch schön ist jenseits der Hochglanz- und Körperperfektionswahn?

Es bleibt ein ungutes Gefühl zurück. Für mich ist das Video ein Beleg für die These, die Ralf-Peter Reimann in seinem Blogbeitrag „Diskret sterben“ aufgestellt hat. Es gibt eine Grenze der Intimität. Wenn diese überschritten wird, ist die Menschenwürde verletzt. Ich empfinde es so, dass genau dies hier geschehen ist und weiter geschieht.

4 Gedanken zu “Zion Isaiah Blick. Berührendes oder voyeuristisches Video?

  1. Ich sehe das etwas anders. Meiner Meinung nach wird hier kein Voyeurismus bedient. Mir erschließt sich argumentativ nicht, weshalb das Sterben eines Menschen „diskret“ zu sein habe, um seine Würde zu bewahren, oder warum andere darüber zu befinden haben, inwieweit welche Information, welches Detail verschwiegen gehöre oder welches nicht: Diese Entscheidung (im zitierten Blogbeitrag eben die Mankells) obliegt jedem selbst.

    Ein Kind kann diese Entscheidung möglicherweise nicht selbst fällen – im betreffenden Fall entscheiden die Eltern. Sie haben aus 10 Tagen, die ihnen nur mit ihrem Kind blieben, ein Video geschnitten, das Momentaufnahmen zeigt. 6 von 14.400 Minuten – allein quantitativ ist also nicht davon zu sprechen, dass wir hier ein „gläsernes Leben“ vor uns haben. Qualitativ ist ein Video wie dieses ist Ausdruck der sich verändernde Erinnerungskultur und zeigt augenscheinlich, dass hier Menschen bewusst den Weg wählen, das Sterben als notwendigen letzten Schritt menschlichen Daseins (lassen wir die metaphysischen Interpretationsmöglichkeiten einmal außen vor) nicht zu tabuisieren.

    Wenn man Kritik äußern kann, dann jene: Man kann nicht voraussetzen, dass durch ideologische Vereinnahmung durch eine Verankerung im christlichen Weltbild und positive Wertung dessen (#Glaube, #Zuversicht, #Hoffnung, ein #Wiedersehen im #Jenseits) nicht Ansichten und Gefühle unterdrückt werden, die dem entgegenstehen. Die zum Ausdruck gebrachte #Dankbarkeit gegen die #Barmherzigkeit des #Schöpfers ist u.U. mehr, als mancher wird ertragen können.

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    1. Ich glaube auch, dass sich hier die Erinnerungskultur verändert. Deswegen stelle ich mir die Frage, ob es sich eventuell auch um eine Veränderung geht, die die Generationen unterschiedlich werten. Für mich als Seelsorger ist das eine wichtige Frage, um nicht meine Einstellungen, Assoziationen, Emotionen unreflektiert auf andere zu übertragen.

      Dennoch meine ich, dass hier eine Grenze überschritten wird. Natürlich kann im Zeitalter des Netzes jede/r veröffentlichen was er will, aber das ist nicht das einzige Kriterium für eine ethische Bewertung. Bewertung meint für mich aber nicht Be- oder Verurteilen, sondern ich frage mich, was nach meine Grundüberzeugungen der Menschenwürde entspricht und stelle dies zur Diskussion.

      Ich würde unterscheiden zwischen Wort und Bild/Video.

      Ich beobachte in Anfängen, dass bei Trauerfeiern vermehrt persönliche Dinge des/der Verstorbenen „sichtbar“ werden. Bilder und Videos noch selten, Lieblingsmusik schon häufiger.Im Rahmen einer nicht-öffentlichen Trauerfeier ist das aus meiner Sicht hilfreich für den Trauerprozess. Ich denke, dass dies noch erheblich zunehmen wird. Aber mir erschließt sich nicht der Sinn darin, hier die „ganze Welt“ teilnehmen lassen zu wollen. Und zwar auch deshalb, weil Bilder und Videos viel direkter wirken als das Wort. Ich will ja auch nichts verbieten lassen oder so, aber ich würde vermutlich abraten, wenn ich im konkreten Fall um meine Meinung gefragt werden.

      Bei Worten sieht es noch mal anders aus. Worte sind in gewisser Weise für mich „diskreter“, weil sie meine Phantasie beschäftigen. Der Schutz der Menschenwürde ist hier für mich eher gegeben. Ich sehe nicht direkt nur vor meinem inneren Auge.

      Der Punkt, wo ich am Freitag Ralf-Peter Reimann widersprochen habe: Er hat für mich den Sterbeprozess zu allgemein ins Reich der Diskretion verschoben. Und da bin ich anderer Meinung. Aber ganz am Ende, sagt mir mein Gefühl, gibt es einen Bereich der privat bleiben und nicht öffentlich werden sollte. Hannah Arendt hat hier zwischen dem privaten und dem öffentlichen Bereich unterschieden, zwischen Dingen, die für die Öffentlichkeit und für die Verborgenheit bestimmt sind und zu letzteren gehören für sie die grundlegenden Körperfunktionen, „all das, wozu der Lebensprozeß unmittelbar nötigt“ (Vita Activa S. 88). Ich stimme ihr zu und bin der Meinung, dass der unmittelbare Sterbeprozess hierzu gehört – und deswegen bin ich skeptisch, ob ein Baby, das gerade mal zehn Tage alt wurde und somit vom ersten Moment im Sterben lag, in dieser Weise öffentlich gezeigt werden sollte. Schreiben ja, zeigen nein.

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      1. Auch wenn ich geneigt bin, dem fast zuzustimmen. Die Frage ist: Was wird auf Bildern / in Videos gezeigt? Aus verschiedenen Theorien zur Wahrnehmung von Texten und Bildern wissen wir, dass man mit Bildern (die nur ganzheitlich wahrgenommen werden können) vor allem Emotionen leichter wecken und den Betrachter ergreifen kann. Anders die Schrift: Sie ist nur linear und damit sukzessive wahrnehmbar und schlägt beim Rezipienten eher die rationale Saite an. Das Bild von

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      2. [Ich habe zu früh und aus Versehen abgesendet] einem Kind, das die Hand einer Vertrauensperson greift (mein Bruder schickte mir gerade die Kopie eines Schnitts), fasst emotional sofort an. Das ist die Leistung dieser Medien und sie spielen in unserer Kultur zunehmend eine Rolle.

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