Vorgestern besuchte ich gemeinsam mit einer Gruppe von Schüler:innen des Pestalozziseminars im Rahmen unserer Abschlussfahrt den Erinnerungsort Topf & Söhne in Erfurt. Das Unternehmen konstruierte für die SS die Öfen, in denen in Konzentrationslagern wie Buchenwald oder Auschwitz die Leichen verbrannt wurden.
Warum die umfangreiche Firmendokumentation, die detailliert belegt, wie stark das Unternehmen, seine Eigentümer und viele Mitarbeitende in die Vernichtungsmaschinerie verwickelt waren, nach dem Krieg nicht vernichtet wurde, ist bis heute unklar. Doch genau das ist ein Glücksfall – denn so lässt sich zumindest ansatzweise nachvollziehen, wie es dazu kam. Die Beweggründe waren oft erschreckend menschlich: Angst, Konkurrenzdenken, Neid, Eifersucht.
Ich möchte hier nicht den chronologischen Ablauf der Ausstellung wiedergeben – aus meiner Sicht ist sie didaktisch sehr durchdacht gestaltet. Wer einen Eindruck gewinnen möchte: Es gibt einen empfehlenswerten Film auf YouTube, der die Geschichte von Topf & Söhne anhand der Ausstellung nachzeichnet.
Zwei Dinge haben mich besonders bewegt:
Zum einen wurde mir klar, dass die Vernichtungspolitik der SS auf „ganz normale“ Unternehmen angewiesen war. Topf & Söhne stellte ursprünglich Krematorien für Friedhöfe her. Aber auch Bäcker, Metzger, Möbelbauer und viele andere Gewerke waren an der Infrastruktur der Konzentrationslager beteiligt. „Das hat nicht alles die SS gemacht“, erklärte Jakob, der FSJler, der uns durch die Ausstellung führte. Es waren große wie kleine Firmen – genauer gesagt: Unternehmer:innen – die diese Aufträge annahmen, oftmals mehr oder weniger ahnend, wen sie da belieferten.
Zum anderen dachte ich über meine eigene Familiengeschichte nach. Mein Großvater wurde nie eingezogen – vermutlich, weil sein Betrieb als kriegswichtig galt. Gleichzeitig soll er laut Familienüberlieferung mehrfach kurz vor einer Verhaftung durch die Gestapo gestanden haben. Mein Vater schreibt: „In einem Urteil der Spruchkammer in Wetzlar wurde festgestellt, daß mein Vater Entlasteter war im Sinne des Gesetzes zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus. Es war erwiesen, daß mein Vater rassisch Verfolgte geschützt und keine PG (Parteigenossen) in seinem Betrieb beschäftigt hatte.“
Ich weiß aus seinen Aufzeichnungen auch, dass „unser“ Standort in Wetzlar 1935 von Jakob Rosenthal gekauft wurde, der kurz darauf mit seiner jüdischen Familie nach Südamerika auswanderte. Mein Vater hält fest, Jakob Rosenthal sei „für die damalige Zeit sehr gut für die Holzhandlung bezahlt worden.“ Nach dem Krieg beantragten seine Nachkommen eine Entschädigung im Rahmen der Wiedergutmachung – was bei meinen Vorfahren laut den Aufzeichnungen auf Unverständnis und Ärger stieß, da der Kaufpreis aus ihrer Sicht angemessen gewesen war…
Über die unternehmerischen Aktivitäten in der Zeit lese ich nichts. Es ist meine Vermutung, dass mein Großvater aufgrund seiner unternehmerischen Tätigkeiten nicht eingezogen wurde, im Gegensatz zu seinem Bruder, der später als einer der letzten Verwundeten aus Stalingrad ausgeflogen wurde. Mein Vater notiert auch mehrere Bombenangriffe auf Gießen und Wetzlar, die zu großen Schäden in den beiden dortigen Standorten führten. Anschließend heißt es lediglich: „Nach Kriegsende begann sofort der Wiederaufbau.“
Mittlerweile sind alle längst verstorben. Heute frage ich mich, warum ich damals nicht intensiver nachgefragt habe. Nachzufragen hätte vielleicht unbequeme Wahrheiten zutage gefördert … Diese Frage stand mir gestern wieder vor Augen. Seit der 9./10. Klasse habe ich mich intensiv mit dem Nationalsozialismus beschäftigt. Warum glaubte ich einfach, was in meiner Familie erzählt wurde? War es eine Art Betriebsblindheit? Oder genügte es mir zu wissen, dass mein Großvater von der Gestapo beobachtet worden war – ein stiller Hinweis darauf, dass „wir“ auf der richtigen Seite standen? Ein beruhigender Gedanke. Und war vielleicht auch die Aussage über den hohen Kaufpreis an Jakob Rosenthal Teil dieser inneren Beruhigungsstrategie?
Seit sich der Rechtspopulismus – und in seinem Kielwasser auch rechtsextreme Haltungen – zunehmend Raum verschaffen, bin ich viel vorsichtiger geworden bei Fragen wie dieser: Warum haben „damals“ so wenige widersprochen? Hannah Arendt sprach von der „Banalität des Bösen“. Ich glaube, dazu gehört auch eine „Banalität des Alltäglichen“. Grenzen des „Erlaubten“ oder „Anständigen“ verschieben sich nicht plötzlich, sondern leise, schleichend – oft in so kleinen Schritten, dass es scheinbar keinen Grund gibt, Nein zu sagen. Und mit der Zeit rutscht alles …
Ein Beispiel: In den Unterlagen von Topf & Söhne ist klar dokumentiert, dass man wusste, wozu die Verbrennungsöfen gebraucht wurden – und man reichte sogar noch „optimierte“ Konstruktionen ein, um sich intern zu übertrumpfen. Krass. Banal.
Ich wünschte, es gäbe in meiner Familie auch noch Dokumente, die zeigen könnten, was meine Vorfahren wussten – und was sie unternehmerisch in dieser Zeit taten.