Fünf Jahre Corona – Kränkung und Erschöpfung

Montag, 16. März 2020.
Ich stehe im Haus kirchlicher Dienste auf dem Gang.
Eben habe ich die Mitteilung bekommen:
Wir müssen alle nach Hause gehen.
Das Corona-Virus breitet sich immer mehr aus.
Die Landeskirche schließt unsere Einrichtung.
Einige Tage später verkündet Angela Merkel den umfassenden Lockdown.

Die Szene hat sich mir tief eingebrannt.
Meine Mitarbeiter:innen stehen mit mir auf dem Gang.
Fragen schwirren herum:
Wie geht es weiter?
Wann sehen wir uns wieder?
Sehen wir uns wieder?

Eine bedrückende Atmosphäre.
Viele Fragen.
Keine Antworten.
Viele Gefühle:
Fassungslosigkeit.
Bestürzung.
Angst.

In diesem Moment geht mir durch den Kopf:
Es wird nach diesem Tag nicht mehr so sein wie vorher.
Das ist eine Zäsur in meiner und unserer Lebensgeschichte.
Tiefgreifend und nachhaltig.

16. März 2020.
So begann es.

16. März 2025.
Woran denke ich fünf Jahre später?
Zwei Dinge gehen mit durch den Kopf.

Das Erste.
Eine Gesprächsrunde.
Mittendrin in diesen Jahren.
Wir teilen unsere Erfahrungen.
Ich sage:
Corona ist eine Kränkung unseres westlichen Lebensmodells.
Wir dachten, wir sind sicher.
Haben Krankheit und Trauer im Griff.
Oder zumindest an den Rand gedrängt.
Und dann plötzlich das.
Es passt nicht.
Das tut weh.
Corona kränkt.

Ich sehe in erstaunte Gesichter.
Es entwickelt sich ein nachdenkliches Gespräch.
Eine Kränkung verletzt Menschen in ihrer Ehre.
In ihren Werten und Gefühlen.
In ihrer Selbstachtung.
Für mich trifft das alles hier zu.

Das Zweite.
Angst.
Einsamkeit.
Trostlosigkeit.
Eingesperrtsein.
Prägende Gefühle in der Pandemie.
Nicht nur im ersten Lockdown.
Abstand und Masken.
Kein Kontakt zu den Liebsten.
Oder viel zu viel davon.

Die unbekannte Situation fordert immense Kraft.
Viele gehen weit über ihre Grenzen.
Ich ahne früh:
Wenn das mal vorbei ist, kommt eine riesige Erschöpfungswelle.

Während der Pandemie hielten wir durch.
Dann ließ der Druck nach.
Endlich wieder ohne Maske herumlaufen.
Ins Stadion gehen.
Menschen umarmen.
Die tieferliegende Erschöpfung noch mal anschauen?
Jetzt nicht.
Vielleicht später.

In diesen Tagen wird hier und da über den Beginn der Pandemie berichtet.
Überraschend wenig.
Der Bundespräsident mahnt zur Aufarbeitung.
Aber so richtig will niemand ran.

Nach Corona kam die Ukraine.
Dann Trump.
Und das Klima ist auch immer noch ein Problem.
Eine Krise jagt die nächste.
Der Berg der Erschöpfung wird größer und größer.

Manchmal denke ich an meine Generation.
Haben wir uns früher nicht gefragt:
Warum wollten unsere Eltern und Großeltern die Nazizeit nicht aufarbeiten?
Heute frage ich mich:
Ging es ihnen auch so?
Zuerst mal nach vorn schauen.
Das Leben genießen.
Mir etwas aufbauen.
Vergessen, was hinter uns liegt.
Doch vergessen geht nicht.

Ich erinnere mich an Gespräche in den 90er Jahren mit Männern über 80.
Sie erzählten mir vom Krieg.
Furchtbare Dinge haben sie gesehen.
Herr Pastor, Sie sind der Erste, dem ich das erzähle.
In solchen Momenten lief es mir eiskalt über den Rücken.

Wann fangen wir an, von Corona zu erzählen?
Auf eine Weise, die uns gut tut?

(Foto: Vom Flur im Haus kirchlicher Dienste habe ich kein Foto. Dieses hier habe ich auf Pixabay gefunden, es kommt den Gängen im HkD einigermaßen nahe.)

Ich freue mich über Kommentare: Kritik, Anmerkungen, Zustimmung...

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