Studienreise Thessaloniki II: Würde, Zorn und Hoffnung

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Auf dem Weg zu unserem ersten Gespräch laufe ich mit der Kamera durch die Straßen.
Plötzlich sehe ich sie:
Die Frau mit ihren Sandalen und den rot lackierten Nägeln.
In Würde kehrt sie die Straße.
Jede Bewegung sagt zugleich:
Das ist nicht die Arbeit, die ich wirklich will.
Dieses Bild drückt viel von dem aus, was wir gestern gesehen und gehört haben.

Das erste Gespräch führen wir bei Europe Direct.
Leidenschaftlich erzählen Mitarbeitende, zwei Studenten und ein regionaler Bürgermeister.
Eine Mischung aus Wut, Verzweiflung und Hoffnung.
We are not lazy.
Wir sind nicht faul.
Lazy, dieses Wort fällt immer wieder.
Und:
So geht ein Bruder nicht mit seinem Bruder in einer Gemeinschaft um.
Kein Bruder drückt den anderen zu Boden.
Wobei, es gibt keine Kritik an „den Deutschen“, nur an der Regierung.

Es wird anschaulich, was es bedeutet, wenn 70 Prozent keine Krankenversicherung mehr haben.
Oder wie es sich (über-) lebt mit einer Gehaltskürzung von 1300 auf 800 €.
Oder was es heißt, von dem schmalen Salär auch noch das teure Studium der Tochter zu finanzieren – „es geht doch um deren Zukunft.“
Oder wie Stadtpolitik (nicht) geht, wenn die lokalen Handlungsträger kaum Spielraum haben, weil Athen alles vorgibt, auch das Geld.
Und trotzdem:
Auch hier gibt es Hoffnungsschimmer.
Derselbe Bürgermeister erzählt von seinen Anstrengungen, Geld in die Stadt zu holen.
Die beiden Studenten sprechen eindrücklich von ihren Hoffnungen auf bessere Zeiten.
Ein paar mal droht die Stimmung zu kippen:
Eine Frage, ein Kommentar und plötzlich steht die Wut im Raum, sichtbar auf den Gesichtern.
Ein Missverständnis, ein Wort falsch gehört.

Am Ende die Antwort auf die Frage, was wir Deutschen tun können:
Unisono heißt es, erzählt zuhause was Ihr hier seht und hört.

Nachmittags besuchen wir das Zentrum Oikopolis.
Die Heinrich-Böll-Stiftung hat ein Treffen mit ehrenamtlichen Gruppen organisiert.
Einer erzählt von Sozialgenossenschaften.
Ein anderer mit leuchtenden Augen über perka.org, ein Urban Gardening Projekt.
Andere engagieren sich in der Ökologiebewegung oder in der Flüchtlingsarbeit.
Im Zentrum steht auch hier wieder der Zusammenbruch der Gesundheitsversorgung.
Mehrere Organisationen versuchen, eine Grundversorgung der griechischen Bevölkerung, aber auch der endlosen Flüchtlingsströme zu gewährleisten.
Was wir hier hören, raubt den Atem.
Wie kann das sein, dass die EU, Banken, Herr Schäuble oder wer auch immer ein ganzes Land gesundheitspolitisch zugrunde richtet.
Ein Mitglied der Europäischen Gemeinschaft!

Solidarität wird hier ganz groß geschrieben.
Sie geht mitunter sehr weit.
Wir hören von Krebskranken, denen es vergönnt ist, Medikamente zu erhalten.
Sie teilen diese mit anderen Krebskranken.
Nehmen also freiwillig nur die Hälfte ein.
Ehrenamtlich arbeiten Ärzte in solchen, oft mobilen „Kliniken“ bis zum Umfallen.
Solidarität, anders geht es nicht.

Und was sagt die EU?
Reformen gegen Geld.
Gut, doch Reformen brauchen Zeit.
Bis Hartz IV „funktionierte“, dauerte es zwei Jahre.
Die Griechen sollen binnen Wochen Konzepte zum Umbau ihres Staates, nein, ihrer Kultur vorlegen.
Wie soll das gehen?
Ganz abgesehen von der Frage, ob Kulturveränderungen überhaupt erzwungen werden können.
Von dürfen ganz zu schweigen.

Ich frage mich:
Was wäre in Deutschland los, wenn eine Troika zu uns sagen würde:
Kredit gibt es nur gegen Gehaltskürzungen pauschal im 40 Prozent für alle staatlichen Angestellten und Beamten?
Und Rentenkürzungen in gleicher Höhe, versteht sich.

Oder was wäre, wenn eine Troika sagen würde:
Ihr müsst euer Steuersystem reformieren.
Schafft die Einkommenssteuer ab, erhebt nur nur noch Mehrwertsteuer.
Die beiden großen Kirchen ständen binnen Wochen vor dem totalen Kollaps.

Gehalts- und Rentenkürzungen, tja, dann kann ich mir das Auto nicht mehr leisten.
Erst brechen die Steuereinnahmen auf Benzin weg.
Bald danach kann VW dicht machen.
Und so weiter und so fort.

Bitte nicht falsch verstehen:
Ob das so käme oder ganz anders, ich weiß es nicht.
Das ist auch nicht wichtig.
Mein Eindruck ist nur:
Genauso solche Zumutungen werden von Griechenland verlangt.
Das ist würdelos.
Und macht zornig.
Das ist spürbar in Thessaloniki.
Die Würde nicht zu verlieren, darum kämpfen die Menschen hier, Tag für Tag.
Wie die Dame mit ihrem Besen und den schönen Sandalen.

3 Gedanken zu “Studienreise Thessaloniki II: Würde, Zorn und Hoffnung

  1. Pingback: Griechenland, im Jahr 2015. Texte, Beiträge, Fotos und mehr | matthias jung

  2. es macht fast wieder mut, dass zumindest in einigen südeuropäischen ländern wieder linke ideen zustimmung finden und systemkritik wieder denkbar wird.
    syriza in griechenlqnd, podemos in spanien, grillo in italien – man bekommt wieder hoffnung
    seit südosteuropa in den faschismus abgleitet und auch in mitteleuropa (besonders deutschland und frankreich) rechtsextreme bewegungen geschaffen wurden, um das system zu verteidigen, .

    was planen die griechen?

    die rosskur der eu-diktatur

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  3. Michael Schaper

    Vielen Dank, Matthias! Sammle weiter Eindrücke, komprimiere, konserviere sie und bring sie hier in Deutschland zur Entfaltung. Liebe Grüße aus Ostfriesland, Michael

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