Lähmende Gewohnheiten überwinden. Anmerkungen zum Transformationskongress am 8./9. Juni in Berlin

zukunftHermann Hesse schreibt in seinem Gedicht »Stufen« von der lähmenden Gewohnheit, die es zu überwinden gilt, wenn Leben gelingen soll. Dazu braucht es den stetigen Neuanfang, genauer die Bereitschaft, stets neue Anfänge zu suchen. Das schließt auf der einen Seite gut an das an, was Ina Praetorius und andere im Anschluss an Hannah Arendt über die Bedeutung des Neuanfangs aus der Haltung der Geburtlichkeit sagen und schreiben. Mir stellt sich allerdings zunehmend die Frage, wie ändern wir Gewohnheiten, nicht nur individuell, sondern auch in Gruppen, Institutionen, der Gesellschaft, ja weltweit.

Das klingt jetzt ziemlich groß. Ausgelöst hat diese Frage ein Workshop auf dem Transformationskongress in Berlin, an dem ich diese Woche teilgenommen habe. Es ging um die Frage, wie Innovationen in Richtung einer nachhaltigen Wirtschaft zum Wohl der Menschheit und dieses Planeten gefördert werden können. Einig waren sich die Teilnehmenden, dass es dringend an der zeit ist, etwas zu tun, Vorschläge gibt es auch en massse – aber es gelingt nicht, sie umzusetzen. Immer wieder wird – wenn überhaupt – kurzfristig statt langfristig gehandelt. Paradoxe Forderungen kommen dazu – einerseits wird ein »starker Staat« gefordert, um zum Beispiel die Auswüchse des deregulierten Weltfinanzsystems eindämmen zu können, andererseits soll der Staat nichts einfach nur so gegen die Bürger durchsetzen, auch dann nicht, wenn er meint, im Sinne des Gemeinwohl zu handeln. Im Detail gibt es für beides gute Argumente, ich frage mich nur, wie soll das gehen und wer entscheidet am Ende, wo der Staat »stark« sein soll und muss und wo schwach.

Interessanterweise tauchte dann irgendwann das Stichwort Gewohnheiten auf, das mich schon länger in anderen Kontexten beschäftigt. Das wurde als eine (Bildungs-?) Aufgabe angesehen, der sich Staat und Zivilgesellschaft stellen müssen.

Ich habe darauf keine konkrete Antwort. Die Bereitschaft zum stetigen Neuanfang ist aus der biblischen und sicher auch außerchristlichen Literatur gut bekannt, motiviert durch die Zukunftsorientierung. Aber was ist mit der Gewohnheit? Die lähmende Gewohnheit verführt zum Stehenbleiben, Nichtstun. Theologisch gesprochen hat Gewohnheit viel gemein mit dem Begriff der Sünde. Nicht der moralischen verstandenen Tatsünde, sondern mit Machtstrukturen, die vor allem auf Angst beruhen und deshalb lähmen, hindern, stören, zerstören. Meine These lautet daher, sich die gegenwärtigen Gewohnheitsstrukturen mit der theologischen Tradition des Sündenbgeriffs zu betrachten, also überall da, ich von »Sünde« spreche, mal versuchsweise »Gewohnheit(en)« einzusetzen. Und umgekehrt – überall da, wo ich von Gewohnheit(en) spreche, das Wort Sünde zu verwenden. Wahrscheinlich werde ich feststellen, dass das nicht überall passt, aber vielleicht passt es viel häufiger als gedacht und führt so zu einem Erkenntnisgewinn.

Das hat die Schwierigkeit, dass der Sündenbegriff so ohne weiteres nicht anschlussfähig ist. Aber für die interne theologische Reflexion ist auch wichtig, diesen »alten« Begriff nicht aus den Augen zu verlieren. Wenn denn Sünde und Gewohnheit vieles gemeinsam haben, dann kann in einem weiteren Schritt – der ja auch parallel verlaufen kann – nach biblischen Motiven gesucht werden, Gewohnheiten im Kontext des Sündenbegriffs zur Sprache zu bringen und mit dem vertrauensvollen Neuanfang in Verbindung zu setzen. Neuanfang ist auch eine »Übersetzung«, Interpretation oder Auslegung des Begriffs Auferstehung.

Allerdings fällt mir dabei natürlich sofort ein, dass es auch gute Gewohnheiten gibt, die ich gar nicht ändern will. Deswegen gefällt diese Begriff »lähmende Gewohnheiten« von Hesse so gut. Lähmen, gelähmt sein, gelähmt werden, festgenagelt a Boden sein, keinen Schritt mehr gehen können, das hat alles mit Handlungsunfähigkeit und Unbeweglichkeit zu tun, und dahinter steckt oft Angst und Sorge und damit verbunden Gier, Egoismus, Gewalt.

Gewohnheiten erkennen ist das eine, neue Anfänge wagen das andere. Wie könnte eine Brücke aussehen, eine ganz praktische Brücke? Wie kommen wir vom Erkennen ins Tun? Theologisch gesprochen: wie kommt es zu heilsamen Handlungen der Liebe aus dem vertrauensvollen Glauben heraus, der die Sünde überwindet?

Auf dem Kongress wurde mehrfach sehr massiv vorgetragen, Menschen wollen Veränderungen, wir wollen Veränderungen. Dazu schließen wir uns nun zusammen. Soweit so gut, es bleibt aber die Macht der lähmenden Gewohnheiten, die sich in der alltäglichen Versandung von Impulsen, Initiativen und Aufbrüchen zeigt.

Der Philosoph Frithjof Bergmann wirbt seit Jahren für seine Konzept der »Neuen Arbeit«. Sein Ansatz besteht darin zusagen, wenn Menschen eine Arbeit haben, finden, ausüben können, die sie »wirklich, wirklich wollen«, dann ist die stärkste Motivation, die Menschen in ihrer Arbeit haben können. Der Weg, heraus zu finden, was ich »wirklich, wirklich will«, ist dabei keineswegs einfach zu begehen. Aber er lohnt sich, das bezeugen Menschen, die sich von Bergmann anregen lassen, immer wieder. Ich frage mich nun, ob dieses »wirklich, wirklich wollen« nicht auch über den Begriff der Arbeit hinaus (den Bergmann allerdings schon sehr weit fasst) für die anstehenden Fragen der Veränderungen unserer Gesellschaft und der globalen Problemlagen hilfreich gemacht werden kann. Was will ich, was wollen wir hier wirklich? Antworten darauf zu finden ist sicher noch schwierigere Herausforderung als eine Arbeit zu finden, die ich »wirklich, wirklich will«. Aber vielleicht doch eine lohnenswerte Frage?

4 Gedanken zu “Lähmende Gewohnheiten überwinden. Anmerkungen zum Transformationskongress am 8./9. Juni in Berlin

  1. Pingback: Die Kraft der Vorerinnerung oder: Kirche und Zukunftsforschung | matthias jung

  2. Wilhelm Jung

    Hweute Nachmittag habe ich in einemBuch etwas Schönes gelesen: Arbeit, die man gerne macht, ist gewonnene Zeit. Ob es nun beim Fußboden putzen ist oder bei einer Arbeit im Dienste der Allgemeinheit. Wenn man solche Arbeiten ungern macht, dann ist auch die Zeit verloren.

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  3. interessant. Allerdings glaube ich nicht, dass Gewohnheiten prinzipiell schlecht sind. Iris Murdoch und Simone Weil z.B. haben darauf hingewiesen, dass ethisches Verhalten nur dann funktioniert, wenn es eine Gewohnheit ist, wenn ich also nicht jedesmal, bevor ich etwas Richtiges tue, dafür eine ethische Entscheidung treffen muss. Oder auch anders: Man kann schlechte Gewohnheiten nicht ablegen, indem man sie sich abgewöhnt, sondern nur, indem man sich etwas anderes angewöhnt. wäre so eine These…

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    1. Antje, da sind wir ganz nah beieinander. Mich beschäftigt zur Zeit die Frage, warum das so schwer ist und versuche es in Verbindung zum Sündenbegirff zu setzen. Nicht als Entschuldigung für Nix-Tun, aber für die ehrliche Analyse der Wirklichkeit. Sünde ist für mich etwas un-moralisches, es hat mit Macht, mit Bösem, mit Tragik zu tun. Deswegen „lähmende Gewohnheiten“. Und das andere ist die Frage, wie schaffe ich die Motivation, mir etwas Neues an- und damit zugleich anderes abzugewöhnen. Da ist meine Vermutung oder These, dass die Frage nach dem, was ich, was wir „wirklich, wirklich will/wollen“ evtl. Hilfestellung geben kann. Kann ich hier jetzt nicht detailiert ausbreiten, vielleicht mach ich mal einen eigenen Blogbeitrag dazu, Bergmann spricht in seiner philosophischen Analyse von der „Armut der Begierde“ und von der „Selbstunkenntnis“ der Menschen. Er meint damit: wir Menschen wissen in der Regel ncht, was wir wirklich zutiefst wollen und vertun unser Leben damit… Dies scheint mir hilfreich, um auch noch mal über das Individuum hinaus zu schauen und zu fragen, was wollen wir als Gruppen, als Gesellscahft „wirklich“. Wenn das für mich, für Gruppen klar ist, fallen auch die schwierigen Entscheidungen leichter, weil ich zb weiß, warum ich jetzt dies mache und nciht jenes, warum ich auf das jetzt verzichten – will, um ein anderes Ziel anzupeilen. Klingt vielleicht etwas naiv, aber wenn wir keine Neuanfänge mehr in den Blick und dabei überlegen, warum jetzt HIER neu anfangen, dann haben wir aufgegeben und resigniert, theologisch gesprochen, das Evangelium verraten.

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